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Was das Gehirn mit der Wahrheit macht ...

Eva Figge • Okt. 16, 2020

... und warum es in vielen Fällen gar nicht möglich ist, recht zu haben.

Haben wir dasselbe erlebt? 

Wer kennt das nicht? Du bist mit Geschwistern aufgewachsen und ihr erinnert euch gemeinsam an früher. Und plötzlich liegen drei verschiedene "Wahrheiten" auf dem Tisch, wie es damals war.


Oder du streitest dich mit deinem Partner/deiner Partnerin. Tage später fallen Sätze wie: "So war das überhaupt nicht! Was redest du denn da?"


Weiter kann man mit seinem Verständnis voneinander kaum entfernt sein.

Nicht gerade förderlich für die friedliche Beendigung eines Streits.


Es gibt zahlreiche Beispiele für Situationen, in denen wir davon überzeugt sind, recht zu haben. "Hab ich ja schließlich so erlebt, also muss das doch stimmen!"


So leicht ist es leider nicht.

Dafür müssen wir einen Ausflug in die Gehirnforschung machen. Die drei Begriffe, die hier mitspielen, sind wahrnehmen, erinnern und denken. Jeden Tag prasselt eine Vielzahl von Sinneseindrücken auf uns ein. Glücklicherweise besitzt unser Gehirn eine natürliche Filterfunktion, die manches einfach nicht durchlässt. Ganz einfaches Beispiel: Du hast heute morgen auf dem Weg zur Arbeit eine Vielzahl von Autos oder Menschen gesehen. An welche kannst du dich noch erinnern?


Hier sind wir bei der Wahrnehmung. Ein Sinneseindruck muss für uns wichtig oder stimulierend sein, dass er zur weiteren Verarbeitung durchgelassen wird. Der berühmte Griff auf die Herdplatte brennt sich besser ins Gedächtnis ein als wenn mir jemand in Ruhe erklärt, dass ich mich verbrennen könnte. So werden nur bestimmte Informationen gespeichert - was nicht heißt, dass andere Dinge nicht stattgefunden haben. Unsere Erinnerung ist also schon durch unsere Wahrnehmungsfilter getrübt.



Und nun setzt das Denken ein.

Erinnern und Denken sind verschieden.
Das Gehirn ist stets bemüht, Dinge entsprechend unserer Vorerfahrungen einzusortieren und zu speichern. Logisch also, dass zwei Menschen, die dasselbe erlebt haben, eine unterschiedliche Erinnerung entwickeln, weil das Ereignis auf unterschiedliche Erlebniswelten trifft.
Und dann setzt noch die Wertung ein, die die Erinnerung nochmals beeinflusst. Der eine mag völlig entspannt bleiben, wenn er einen unaufgeräumten Raum betritt - dem anderen ist es ein Gräuel und er erinnert sich an jede Kleinigkeit, die herumlag und wie oft das schon passiert ist und ...

Und dann ist da noch das Selbstbild.
Wenn ich tatsächlich einmal etwas getan habe, das nicht so super war oder vielleicht sogar jemanden verletzt hat, meldet sich das schlechte Gewissen. Und dann beginnt das Gehirn seinen finalen Umbau der Erinnerung im Einklang mit den eigenen Werten, um den Selbstwert nicht zu gefährden.

Friedrich Nietzsche hat dies schön formuliert:

"Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach."

Das Gehirn ist also stets versucht, Erinnerungen zu glätten. Lieber stehen wir als "weiße Ritter" da, als dass wir uns mit Schamgefühlen plagen.

Wahrheit ist relativ. 
In einem Konflikt recht haben zu wollen oder nach Schuldigen zu suchen, ist deswegen mühsam und führt nicht zur Klärung. Das Gehirn unterstützt uns, die Millionen Sinneseindrücke zu verarbeiten, die täglich auf uns einprasseln, aber es spielt uns auch Streiche, was unsere Erinnerung anbelangt - ob wir wollen oder nicht. 

Deswegen machen sich Mediatoren nicht auf Wahrheits-, sondern auf Wahrnehmungssuche. Dadurch erklären sich die Reaktionen und Handlungen der anderen.
So entsteht Verständnis. Und Verständnis ist das Geheimrezept für gelungene Beziehungen.

Nächste Folge: Wie formuliere ich wertschätzende Kritik?
von Eva Figge 08 Sept., 2020
Ja! Naja, teilweise. Nämlich nur, wenn es um den eigenen Selbstwert geht. Kurzfristig wird der geschützt, langfristig geschwächt.
Viele wissen nicht, wie man gut mit Wut und  Meinungsverschiedenheiten umgeht.
von Eva Figge 02 Juli, 2020
Auseinandersetzungen zu vermeiden ist nicht die richtige Antwort auf die Angst vor Konflikten. Des lieben Friedens willens reden wir nicht ausreichend miteinander. Die Angst vor Konflikten steckt uns in den Genen. Setzt euch miteinander auseinander. Redet über den Konflikt, über die dahinterliegenden Gefühle und Bedürfnisse.
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